Geschichten von Angehörigen
Antje Kosemund,
Schwester von Irma Sperling, die am 8. Januar 1944 in der „Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund“ in Wien ermordet wurde
Antje Kosemund fasst die Erinnerungen an ihre Schwester, Irma Sperling, die sie nur bis zu deren dritten Lebensjahr kannte und die im August 1943 aus den Alsterdorfer Anstalten nach Wien deportiert wurde, in den 1980er Jahren so zusammen:
„Ich selbst bin Jahrgang 1928, also nur zwei Jahre älter als Irma. An ganz bestimmte Sachen kann ich mich aber dennoch sehr gut erinnern. Irma und ich wuchsen zusammen in einem Zimmer auf. Trotz der hohen Kinderzahl hatte sie ein eigenes Kinderbettchen. Die anderen Kinder, von denen keines behindert war, kümmerten sich um Irma. Irma freute sich immer ganz besonders, wenn jemand kam und sie hochnahm, sie wusch oder fütterte. Da war ganz deutlich zu erkennen, dass das Kind durchaus Emotionen spürte und zeigte, nicht wie die Nazis von behinderten Kindern sprachen. Das habe ich sogar als kleines Kind gemerkt.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde mein Vater im Zuge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus seiner Anstellung bei der Krankenkasse entlassen. Er ist in der Arbeiterbewegung aktiv gewesen und wurde später von den Nazis verfolgt, unter anderem mehrmals inhaftiert. Wir gerieten in wirtschaftlich größere Not, meine Mutter wurde körperlich so ernsthaft krank, dass sie sich einer stationären Behandlung unterziehen musste. Die Fürsorgerin besucht die Familie und sorgte dafür, dass Irma nach Alsterdorf kam.“
Als Antje Kosemund 1983 die alten Akten ihres Vaters nach dessen Tod ordnet, findet sie einen Kostenbescheid der Sozialabteilung des Amtes Uhlenhorst in Hamburg für den Aufenthalt Irmas in den Alsterdorfer Anstalten und der Wiener Anstalt „Am Steinhof “ vom 6. Januar 1945. Der Vater sollte 2.592,50 RM dafür nachzahlen. Kurz vor der Befreiung wurde, in Anbetracht der schwierigen sozialen Verhältnisse, auf die Erhebung der Kosten verzichtet.
Antje Kosemund erinnert sich an Besuche der Mutter mit den Kindern in Alsterdorf, wo sie Irma aber nur von ferne sehen durfte. 1944 habe die Mutter eine Benachrichtigung aus Wien bekommen, dass Irma jetzt dort sei und ihr Zustand „ernst“ sei. Vom Tod der Schwester habe die Familie erst sehr viel später erfahren.
Durch den Aktenfund im Nachlass des Vaters wird Antje Kosemund aktiv. Sie forscht überall nach, was mit Irma wirklich geschehen ist. Sie sucht im Archiv Alsterdorfs und fährt nach Wien, um Unterlagen zu bekommen. Langsam setzt sich das Bild über Irmas Leidensweg zusammen. Sie fängt an, über das, was sie herausbekommt, Vorträge zu halten und insbesondere junge Menschen über die Verbrechen der NS-Euthanasie aufzuklären.
„Man ist so hilflos, wenn man heute darüber nachdenkt“, sagt Antje Kosemund, „diese Menschenverachtung, diese Missachtung des Lebens ist nicht zu verstehen. Es überkommt mich eine tiefe Traurigkeit, wenn ich über Irmas Leidensweg nachdenke. Warum konnte das passieren?“
Das österreichische Fernsehen berichtet 1994 darüber, dass die umfangreiche Sammlung von Gehirnen und Gehirnschnitten aus der NS-Zeit im „Ludwig-Boltzmann-Institut“ auf dem Gelände des ehemaligen Steinhofs in Wien in einen Gedenkraum umgestaltet werden sollte. Als Antje Kosemund diesen Bericht durch Zufall hört, findet sie heraus, dass sich auch das Gehirn ihrer Schwester Irma Sperling in dieser Sammlung befand. Sie protestiert dagegen, dass die Gehirne der Opfer ausgestellt werden sollten, und fordert ihre würdevolle Bestattung. Die Evangelische Stiftung Alsterdorf schließt sich der Forderung an. Nachforschungen ergeben, dass sich auch die Gehirne neun weiterer Opfer aus Alsterdorf in der Gehirnkammer in Wien befinden.
Es folgt ein umfangreicher Briefwechsel mit den österreichischen Behörden, die an der Idee eines Gedenkraumes fest halten und zu dieser Zeit die Beisetzung der über sechshundert Gehirnpräparate nicht in Betracht ziehen. Vor diesem Hintergrund kommt es zur Forderung, die Gehirne der Alsterdorfer Opfer nach Hamburg zu überführen und hier zu bestatten. Die Wiener Stadtverwaltung willigt ein, die Staatsanwaltschaft Wien erhebt aber Einspruch, weil die Gehirne noch Beweismaterial im Ermittlungsverfahren gegen Dr. Alfred Gross, einen der Tötungsärzte der „Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund“ darstellten. Erst durch Vermittlung der höchsten politischen Ebenen (Bundeskanzleramt und Bundespräsidialamt Österreichs) kommt es Anfang 1996 zur Freigabe der Präparate der Hamburger Opfer, ihrer Einäscherung und Überführung nach Hamburg.
Irma Sperlings sterbliche Überreste sind heute an drei Orten beerdigt: Ihr Körper liegt nach der Entnahme des Gehirns 1944 in einem Massengrab auf dem Zentralfriedhof in Wien. Die auf Betreiben von Antje Kosemund aus Wien überführte Asche des Gehirns wird 1996 auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg bestattet. Später gefundene Nervengewebsschnitte des Gehirns werden 2002 in einem Ehrengrabmal für die „Euthanasie“-Opfer der „Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund“ auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Karen Haubenreisser,
Nichte von Rolf Haubenreisser, der am 16.5.1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen ermordet wurde
Karen Haubenreisser, Mitarbeiterin der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, durchbrach 2011 das Schweigen über den Tod ihres Onkels Rolf Haubenreisser. Zusammen mit ihrer Familie stieß den Bau eines Lern- und Gedenkortes im Bayrischen Mainkofen an: „Dass es ein behindertes Kind in meiner Familie gab, dass getötet wurde, war ein Tabu – wir Kinder wussten immer, da ist was Schlimmes, aber weder meine Schwester noch ich hätten unsere Großeltern jemals danach gefragt. Rolfs Ermordung zeigt, wohin Ausgrenzung in ihrer extremen Form führen kann. Sie zeigt, wie staatliche und institutionelle Stellschrauben der Ausgrenzung ineinandergriffen. Sie zeigt, wie Ausgrenzung in einer ganz normalen Nachbarschaft möglich wurde. Brüche und Widersprüche verdeckt unter Sprachlosigkeit und Schweigen.“
Karen Haubenreisser recherchierte die Geschichte ihres Onkels:
Rolf Haubenreisser wurde am 12. Juni 1935 geboren. Er lebte zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Horst und seinen Eltern Käthe und Ernst Haubenreisser im Obergeschoss eines kleinen Hamburger Mehrfamilienhauses in Nienstedten. Mit seinem Bruder spielte er zusammen im Bollerwagen im Garten, zusammen mit den Nachbarskindern spielte er im Schnee, gern saß er mit seiner Mutter auf dem Balkon.
In seinem ersten Lebensjahr hatte Rolf immer wieder Krampfanfälle erlitten. Im Alter von eineinhalb Jahren konnte er gehen. Doch er sprach nicht. Seine Entwicklung war durch Komplikationen bei seiner Geburt beeinträchtigt.
Im März 1940 wurde der Vierjährige in die Alsterdorfer Anstalten überwiesen. Der Hausarzt begründete es so: „Da ein jüngerer Bruder und ebenfalls die Gesundheit der Mutter unter dem Pat[ienten] schwer leiden, erscheint uns eine dauernde Unterbringung dringend erforderlich.“
Der leitende Oberarzt Gerhard Kreyenberg vermerkte bei der Aufnahme in Alsterdorf: „Pat.[ient] wurde als Neuaufnahme in den Wachsaal aufgenommen. […] Im Wesen ist er laut und ungebärdig. Bei der Körperpflege ist er wild, Spielsachen wirft er gleich wieder weg. An Körper und Kleidung sehr sauber, und spielt am liebsten mit Gegenständen, die sich drehen lassen.“
Ab 1931 waren die „Wachsäle“ nach Kreyenbergs Konzept einer Modernisierung der Anstalt als neue Abteilungen eingerichtet worden. Die Alsterdorfer Anstalten führten dort eine „Intensivbehandlung“ durch, die auf Strafe, Isolierung und Degradierung beruhte. Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren, sowie aggressive Insulin- und Cardiazol-Schockbehandlungen gehörten dazu. Eine Förderung hingegen erfuhr der fünfjährige Rolf nicht.
Der Vorstand der damaligen Alsterdorfer Anstalten nahm die Bombenschäden der Luftangriffe im Sommer 1943 auf Hamburg als eine Gelegenheit, sich des Teils der ihnen anvertrauten Menschen zu entledigen, die einen hohen Unterstützungsbedarf hatten. Sie deportierten den achtjährige Rolf Haubenreisser am 10. August 1943 zusammen mit 112 weiteren Jungen und Männern in die so genannte Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen bei Deggendorf.
Das Innenministerium verfügte 1942 im sogenannten Bayrischen Hungererlass, Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf systematisch verhungern zu lassen. Der Hungertod wurde durch eine reduzierte, fast kalorienfreie und fettlose Kost herbeigeführt.
Rolf Haubenreisser lebte in Mainkofen unter kaum vorstellbaren Bedingungen. Er starb völlig entkräftet kurz vor seinem 10. Geburtstag am 16.5.1945. Sieben Monate später, im Dezember 1945, erhalten Rolfs Eltern ein Schreiben der Alsterdorfer Anstalten, in dem diese mitteilen, dass Rolf an Darmkatarrh gestorben sei. Unterschrieben: „Mit herzlicher Anteilnahme Lensch, Direktor“.
Karen Haubenreisser fuhr 2011 nach Mainkofen und fand einen verwilderten Friedhof. Nicht zu erkennen war, dass hier die ermordeten Menschen der Anstalt beerdigt worden waren. Sie wandte sich mit weiteren Unterstützerinnen und Unterstützern aus Hamburg an die bayrische Bezirksregierung mit der Aufforderung, den Friedhof entsprechend dem Gräbergesetz zu erhalten und eine Gedenkstätte einzurichten. Die Presse wurde aufmerksam und berichtete. Nach einer fast 70-jährigen Geschichte des Vergessens und Verschweigens erhielt Familie Haubenreisser im September 2011 ein Schreiben des niederbayrischen Bezirkstagspräsidenten, in dem erstmals offiziell die Tötung von Rolf bestätigt wurde. Nach einem weiteren monatelangen Schriftverkehr sagte das niederbayrische Staatsministerium der Familie im Oktober 2012 zu, eine Lern- und Gedenkstätte für die ums Leben gekommenen Menschen aus der Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen zu errichten – unter Nennung aller Namen Im Oktober 2014 weihte die Bayrische Bezirksregierung den Gedenkort auf dem hergerichteten Gräberfeld direkt vor dem ehemaligen Leichenhaus ein, unter Anwesenheit von zahlreichen Angehörigen.
Auf einer Gedenktafel erinnert die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen nun an Rolf Haubenreisser und weitere 1365 Menschen, die im Rahmen des „Hungererlasses“ ermordet oder in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert wurden.
Ein Augenzeugenbericht
Auszüge aus dem Tagebuch des ehemaligen Anstaltsbewohners Albert Huth über die Kriegsjahre in den Alsterdorfer Anstalten
„In schweren Regengüssen mussten die Pfleglinge schwer arbeiten. Eine Unterstellung gab es nicht. Viele Pfleglinge waren völlig durchnässt und bekamen später eine Lungenentzündung… mit Knüppel und Spannriemen wurde geschlagen. Diese Misshandlungen gingen auch nach dem Krieg weiter… über 40 Pfleglinge hatten aus Verzweiflung Selbstmord verübt. Einige sprangen in die Alster, einige von der Hochbahnbrücke …“
„Wenn Fliegeralarm gewesen war, mussten die Pfleglinge, die im Einsatz standen, die Privatpatienten in den Luftschutzkeller transportieren, während das für die übrigen Pfleglinge nicht in Frage kam.“
„Die Pfleglinge wurden oft bestraft. Der Pflegling musste sich dann ganz nackend ausziehen…in eine Badewanne befanden sich zwei Bettlaken, die in kaltes Wasser eingetaucht waren. Diese zwei Bettlaken wurden übers Kreuz um den nackten Körper umgewickelt. Danach folgten drei Wolldecken und wurden mit vier Riemen festgeschnürt… danach kam der Pflegling für 8 bis 9 Stunden in die Zelle…durch die Hitze ziehen sich die Laken zusammen, schnüren die ganzen Blutgefäße ein…nach der Packung war der Pflegling völlig matt…“